In den letzten Jahren haben die Hilfebedarfe in Familien enorm zugenommen. Nicht zuletzt durch die Pandemie und ihre Folgen sind die Fallzahlen in den Hilfen zur Erziehung gestiegen. Armut, psychische Belastungen und gesellschaftliche Ausgrenzung sind Kernthemen in allen Hilfen. Mit Blick auf die demographischen Herausforderungen macht es Sinn, Jugendhilfe in Ergänzung zu individuellen Unterstützungsangeboten neu und offener ins Gemeinwesen hinein zu entwickeln, das Zusammenleben im Quartier mitzugestalten und nachbarschaftliche Selbsthilfe zu unterstützen. Die Gemeinwesenarbeit hat dafür im Rahmen ihrer über hundertjährigen Geschichte umfangreiche Expertise aufgebaut.
Stadtteiltreffs NaSe und Brückenhaus als Akteure sozialer Stadtentwicklung
Die Südstadt ist einer der Stadtteile Tübingens, der überdurchschnittlich stark von Armut und sozialer Benachteiligung betroffen ist. Der Stadtteiltreff NaSe (Nachbarschaftliche Selbsthilfe) ist mit seinen Kultur-, Kreativ-, Freizeit- und Beratungsangeboten dort seit über 25 Jahren ein wichtiger Ort für Begegnung und Unterstützung. Anfangs aufgrund des sehr hohen Jugendhilfebedarfs als Angebot für Familien des 3-Höfe-Quartiers geplant, haben sich die Angebote kontinuierlich mit den Veränderungen im Stadtteil weiterentwickelt. Es entstanden neue Wohnquartiere, Anschlusswohnungen für geflüchtete Familien kamen hinzu und Sanierungen änderten das Bild des Quartiers. Orte für Teilhabe und Demokratie braucht es mehr denn je.
Gemeinwesenarbeit
„Gemeinwesenarbeit (GWA) richtet sich ganzheitlich auf die Lebenszusammenhänge von Menschen. Ziel ist die Verbesserung von materiellen, infrastrukturellen und immate- riellen Bedingungen unter maßgeblicher Einbeziehung der Betroffenen. GWA integriert die Bearbeitung individueller und struktureller Aspekte in sozialräumlicher Perspektive. Sie fördert Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation im Sinne von kollektivem Em- powerment sowie den Aufbau von Netzwerken und Kooperationsstrukturen. GWA ist somit immer sowohl Bildungsarbeit als auch sozial- bzw. lokalpolitisch ausgerichtet“
(Stövesand / Stoik: Handbuch Gemeinwesenarbeit, 2013, S.21)
Auch im Quartier rund um das Neckarstauwehr ist einiges in Bewegung. Das Brückenhaus schafft seit 2020 neue Verbindungen zwischen den Nachbarschaften dies- und jenseits des Neckars. Der Name ist Programm. Die beiden Mitarbeiterinnen der Stadtteilsozialarbeit bauen Brücken in dem bunten Quartier und haben ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen. Sie organisieren Unterstützung im Alltag, fragen nach Ideen von Kindern, Jugendlichen und Familien, suchen nach Wegen, dass unterschiedliche Menschen sich mit ihren Potenzialen und Ressourcen aktiv in die Gestaltung des Stadtteils einbringen. Das Brückenhaus bietet wie die NaSe Räume für Selbstorganisation. Menschen, die sich einbringen wollen, werden behutsam bei der Umsetzung von Ideen fürs Gemeinwesen und das soziale Miteinander ge- stützt und begleitet.
Seismograph für soziale Themen
Die NaSe und das Brückenhaus zeichnen sich durch ein gutes Gespür für die Alltagsthemen und Sorgen der Menschen im Quartier aus. Gesellschaftliche Schieflagen und soziale Bedarfe werden in die Stadtentwicklung und lokale Politik eingebracht. Die Mitarbeiterinnen sind eine wichtige Anlaufstelle für alle Menschen und tragen mit einem bunten Strauß von Angeboten (Sprechstunde, Mittagstisch, Tauschregal, Kinder- und Familiencafé, Treffmöglichkeiten, Angebote der Familienbildung, Kinderkleiderbörse, Ferienangebote u.v.m.) und ihren stabilen Netzwerken zur Stärkung der Nachbarschaft, zur Förderung von Engagement und Selbsthilfe bei.
Dr. Matthias Hamberger
Beitrag aus ParitätInform 2/2024